Wenn man nur sein Äusseres beurteilt sicher nicht. Wer ihn aber kennt oder kennenlernen will, findet in der düsteren Hülle, in der er steckt, eine hilfsbereite, ehrliche und kommunikative Person. Das zeigte sich schon während unseres Gesprächs in der Bahnhofhalle. «Wer hat Angst vom schwarzen Mann» das kleine, dunkelhäutige Mädchen, das spontan auf ihn zuging und ihm artig die Hand reichte sicher nicht. Auch nicht der junge Luzerner der ihn ansprach und es sich nicht nehmen liess ein Bier zu spendieren und schon gar nicht die zwei Touristinnen, die auf Selfie-Tour waren. Gilbert ist zwar ein Einzelgänger, aber einer den es freut sich mit anderen Menschen auszutauschen. Was ihn dazu trieb sein Äusseres auf eine Art zu verändern die nach kontroversen Meinungen geradezu schreit, das erzählte er mir für marktindex.ch.

Wo hat Dein Leben begonnen und wo bist Du aufgewachsen?

Begonnen hat alles 1954 im Kantonsspital Luzern. Wir wohnten an der Voltastrasse 41. Im Moosmattschulhaus habe ich meine ersten Lehrstunden im Sitzen und Lernen erduldet. Mit 11 Jahren sind meine Eltern mit mir an die Himmelrichstrasse gezogen, in den 5. Stock – ohne Lift und ohne Zentralheizung. Als mein Vater einige Jahre später immer mehr pflegebedürftig wurde, war dieser Umstand auch ein Problem für mich: 100 Treppenstufen mit dem Rollstuhl zu überwinden wurden zu einer grosse Aufgabe, welche dann durch den Umzug ins Parterre eine Erleichterung fand. So war es mir vergönnt, meine Eltern bis fast zuletzt zu Hause zu pflegen. Ich wohne seit über 50 Jahren, mit einigen kurzen Unterbrüchen immer noch dort, allerdings heute im renovierten Haus mit Heizung.

Für welchen Beruf hast Du Dich nach Deiner Schulzeit entschieden?

Da mein Grossvater und Vater an der Mythenstrasse in Luzern eine galvanische Anstalt führten, lag es nahe, einen Beruf in diese Richtung zu ergreifen. Meine Lehre schloss ich in Winterthur bei der Sulzer AG als Chemielaborant ab. Auf Grund der MS-Erkrankung meines Vaters musste ich kurz nach Ende der Lehrzeit die Firma übernehmen. 1978 hatte ich an der Moosstrasse 8 im ersten Stock für die nächsten 35 Jahre eine Bleibe für den Betrieb gefunden. Als im Erdgeschoss nicht mehr Autos ausgestellt wurden und die Firma Goofy & Regular, eine Trendsportfirma mit Publikumsverkehr, einzog, mussten wir nach zwei kleinen Bränden die Galvanik schliessen, da diese als Sicherheitsrisiko eingestuft wurde. Die Werkstatt für die Reparaturen blieb bestehen, für die Galvanik musste ich mich in anderen Firmen stundenweise «einmieten».

Womit hast Du Dich bis zu Deiner Pensionierung am liebsten beschäftigt?

Mit dem Reparieren und restaurieren von Metallgegenständen, vorwiegend von kirchlichen Geräten, natürlich immer auch mit dem Galvanisieren: versilbern, vergolden, usw. aber auch mit der Oberflächenbearbeitung, also polieren, mattieren, etc. Mit grosser Freude habe ich immer meine Kunden besucht und diese auch gerne beraten bei Arbeiten an Kelchen, Kreuzen, Reliquiaren, und vielem mehr. Da die Leute mit Metallgegenständen dieser Art meist zum Goldschmieden gehen, haben viele mich immer fälschlicherweise als Goldschmied bezeichnet. Ich arbeitete über zwanzig Jahre mit einem Goldschmied zusammen, der eigentliche Beruf wäre Gürtler: Herstellen von Tafelgeräten, kirchlichen und liturgischen Geräten, etc. Dieser Beruf ist leider am Aussterben. Während 18 Jahren unterrichtete ich an der Sakristanenschule die Pflege und den Unterhalt der liturgischen Geräte. Nach dem Tod meiner Eltern haben mein Goldschmied und ich beschlossen in Stans unsere Ateliers zusammenzulegen. So wurde ich in der «Goldschmitte» Untermieter für meine geschrumpfte Werkstatt. Nach meiner Pensionierung habe ich alle geschäftlichen Tätigkeiten an die Goldmitte in Stans übergeben. Auch im Gastgewerbe habe ich einige Sporen abverdient: zuerst beim legendären Seppi Schnyder im Lindenhof, später im Stadtchöbu (Stadtkeller).

Kommen wir von der Arbeit zu Deiner Freizeit. Was interessiert Dich da?

Auch hier hat meine Arbeit für die Kirche abgefärbt. Ich engagierte mich zuerst in St. Paul, später dann in St. Leodegar als Lektor und Kommunionhelfer. Ich habe in St. Paul auch verschiedene Veranstaltungen mitorganisiert oder durchgeführt. So war ich beispielweise in der Pfadi oder im Pauluschor aktiv. 2016 habe ich mich dann auch von all diesen Diensten zurückgezogen.

Du scheinst kein grosser Vereinsmeier zu sein?

Dazu fehlte mir schlicht die Zeit: Arbeit, Pflege der Eltern mit dem ganzen Haushalt, Einsätze im Gastgewerbe und Einsätze im kirchlichen Dienst. Durch meine Verwandtschaft wurde ich Mitglied der Gesangssektion der Gütsch-Schützen Luzern, später auch deren Präsident, obwohl ich nie Schiessen konnte.

Gilbert, warum hast Du Dich entschlossen, Dein Äusseres auf eine Weise zu verändern, welche nicht alle Leute verstehen können?

Das kann ich auch nicht genau erklären. Da ich als Stammhalter sehr behütet wurde und mir vieles verboten wurde, Skifahren, Schwimmen, Velofahren, entstand der Drang, auszubrechen und etwas zu wagen. Ich war von Tattoos schon immer fasziniert, konnte aber keinen Zugang finden. Plötzlich aber um die 40 eröffnete sich dieser Weg: zuerst den Rücken, dann die Beine. Das wäre sicher noch weiter gegangen, jedoch stoppte mich eine Antibiotika-Allergie. Fast 12 Jahre lang kam dann kein weiteres Bild dazu, obwohl der Wunsch immer vorhanden war. Ich war fasziniert von tätowierten Augen. Zufällig fand ich in Baden das Studio «Rock the Body». Dort wurde dieser Wunsch dann auch Wirklichkeit. Es gibt nicht viele Bodymodifikations-Künstler, welche diese Veränderung durchführen.

Bei einem «Eyeball-Tattoo» wird mit einer Nadel Farbe in die Lederhaut, den weissen Teil des Auges, gespritzt. Hattest Du keine Angst vor den Schmerzen?

Du spürst fast nichts. Es können keine Muster oder Formen wie bei einem Tattoo gemacht werden, da es sich um Einspritzungen handelt. Mit diesen Injektionen wird der Augapfel eingefärbt, so dass sich die Farbe innert 24 Stunden verteilt. Dieser Eingriff ist nicht rückgängig zu machen.

Hast Du diesen Schritt vorgängig gut überlegt?

Ja. (ein Ja wie aus der Pistole geschossen. HS).

Hast Du Berichte gelesen, dass ein «Eyeball-Tattoo» zur Blindheit führen kann?

Ja, auch das. Das ist auch der Grund, warum man nicht beide Augen gleichzeitig machen sollte. Lange Zeit wurde auch nur schwarze Farbe eingesetzt, da diese keine allergischen Reaktionen hervorrief.

Wie kam dir der Gedanke dir auch den Kopf schwarz zu tätowieren?

Der Grund lang in einem kleinen Unglück. Durch einen, nicht mit der sehr guten Arbeit des Bodymoders zusammenhängenden Umstand hat sich das Gewebe unter dem linken Auge schwarz verfärbt, was nicht mehr zu entfernen war. Genau da reifte in mir der Entschluss zu einem «Blackout Tattoo». Ein Schwarzes Tattoo meines ganzen Kopfes das den Makel überdeckte. Ein anderer Grund war mein schönes Rücken-Tattoo, das einen Samurai zeigt, der einen Drachen tötet. Anstatt dieses mit irgendwelchen Motiven zu erweitern, fand ich, dass es einen gebührenden Rahmen erhalten sollte. Den Rest meines Körpers werde ich neutral halten.

Wie lange hat der Tätowierer gearbeitet und wie schmerzhaft war die Prozedur?

Du kannst das selbst ausrechnen, bzw. abschätzen. Die Fläche einer Hand schwarz zu tätowieren beträgt in etwa eine Stunde. Zu den auftretenden Schmerzen: Die sind absolut ertragbar, je nach eigener körperlicher Verfassung und der zu bearbeitender Körperstelle. «Das esch öppe eso, wie wenn du dech amene Brombeeristruch chräblisch».
Bei den Japanern und den Maoris gehören Blackout Tattoos zu deren Kultur. Auch in unseren Breitengraden getrauen sich immer mehr Leute diese Tattoo-Art auszuprobieren.

Aber wieder stellt sich mir die Frage, was hat Dich dazu bewogen noch einen Schritt weiter zu gehen und Dir die Ohren abschneiden zu lassen?

Auch hier wieder die Antwort: Ich weiss es nicht. Der Wunsch mich zu verändern, brodelte und brodelt schon lange in mir. Die ersten Schritte dazu machte ich aber erst, nachdem ich pensioniert und allein war. So gerieten meine Eltern oder die Kunden nicht in die Lage, mein neues Aussehen ertragen zu müssen.

Du hast ja auch nach Deiner Pensionierung noch Kontakt mit früheren Kunden. Haben sich diese vom veränderten Gilbert abgewendet?

Im Gegenteil. Wenn man aussergewöhnlich aussieht, oder sich anders kleidet, wie das bei mir schon seit Jahren der Fall ist, wird das von vielen Teilen der Gesellschaft als Narrenfreiheit eines «Künstlers» akzeptiert. Das war erfreulicherweise auch bei meinen Kunden, Kirchenleute, Pfarrer, Klosterfrauen, usw., so. Da ich innerlich immer noch der Gleiche bin und mit meinem Aussehen niemals provozieren will, merken meine Gegenüber, nach einigen neugierigen Blicken, schnell einmal, dass hier immer noch der alte Mensch in neuer Hülle steckt. Sicher gibt es Leute, welche mich so nicht akzeptieren wollen oder können: Wirte, die mich in Ihrer Gaststätte nicht bedienen wollen. Dagegen habe ich grundsätzlich nichts, gegen abfällige Kommentare dagegen schon. Ich halte mich an deren Wünsche und meide diese Orte, schliesslich bin ich kein Schmarotzer und auch nicht irre.

Wie haben Deine früheren Freunde Dein anderes Ich aufgenommen?

Hier kann ich erkennen, dass sich einige von mit abgewendet haben. Eine Frau hat sich sogar die Mühe gemacht, mir die Freundschaft schriftlich zu kündigen. Andererseits habe ich viele neue Freundschaften gewonnen, ich kann somit sagen «die Spreu hat sich vom Weizen getrennt».

Das Thema Rassismus ist heute ja allgegenwärtig. Wie erlebst Du in Deiner neuen Hautfarbe dein Umfeld?

Da gibt es ausser von zwei Polizeikontrollen nichts zu erzählen. Eine davon an der Moosstrasse. Als ich auf einen Monteur gewartet habe, hat jemand bei der Polizei angerufen, dass ein Maskierter einen Überfall vorbereite. Das zweite Mal war es in Stans: ich war auf dem Weg zur Post, als ich kontrolliert wurde. Im Kanton Obwalden war irgendein Ereignis, bei dem dunkelhäutige Menschen beteiligt waren. Für mich ist das keine Schikane, ich weiss, dass ich mit solchen Sachen leben muss und akzeptiere dies auch.

Gilbert, du bist auf dem Gebiet der Tattoos eine erfahrene Person. Was kannst Du jemandem Raten, der sich mit dem Gedanken herumschlägt, ein solchen zu stechen?

Klein anfangen, dort wo es auch mit Kleidung abgedeckt werden kann. Ein Motiv wählen das man ausbauen kann, wenn der Wunsch dazu besteht. Viele kleine nicht zusammenhängende Tattoos können zwar schön aussehen, erinnern mich aber an Abziehbilder oder an eine Litfasssäule. Namen von Freundinnen oder Freunden in ein Herz zu schreiben, sollte tabu sein. Hier sind Veränderungen in Beziehungen vorprogrammiert: Wenn Heidi ständig die Susi ansehen muss, ist ein Kleinkrieg meist nicht zu vermeiden.

Würdest Du einer jungen Person zu einem Blackout oder Eyeball-Tattoo raten?

Nein. Meine Art der Veränderung brauchte lange Zeit, bis ich mir sicher war das Richtige zu tun. Man muss dazu absolut bereit und im Klaren sein, dass diese Art von Veränderungen das Leben sehr stark dominieren. Es gibt wenige Arbeitgeber, welche einer grossflächig und sichtbar tätowierten Person einen Arbeitsplatz anbieten. Obwohl Tattoos nicht mehr nur Seemännern oder Sträflingen vorbehalten sind, können diese die berufliche Karriere auch negativ beeinflussen: Ausnahmen sind da vielleicht Fussballer oder Rockstars.

Wenn Du die negativen und positiven Erlebnisse um Deine Person Revue passieren lässt, welches kommt Dir spontan in den Sinn?

Das kleine Mädchen, welches mich am Schwanenplatz spontan bei der Hand nahm und zu mir sagte: «Chom met zu mim Mami. Es nemmt dech met hei ond tuet Dech wäsche – de besch weder suber».

Text und Bilder: Heinz Steimann